Zum Tode von Elfriede Neidlein, Erinnerungen von Karl-Heinz Kuhn
Es waren andere Zeiten, die Kindheit, Jugend und Berufsanfänge unserer ehemaligen Chefin prägten. Ihre Mutter verstarb viel zu früh. Die Tochter musste sich schon als Kind um jüngere Geschwister kümmern. Der Vater, selber Volksschulrektor, förderte seine begabte Tochter. Die junge Elfriede Spies konnte ihrer Sprachbegabung und vor allem ihrer Liebe zur französischen Sprache trotz aller Widrigkeiten ein erhofftes Betätigungsfeld geben. Sie wurde Referendarin in Ehingen. Die Schüler von damals nannten sie liebevoll „Bambi“, die Herren von der Schulaufsicht beeindruckte ihr Unterrichtsstil. Die grazile Frau heiratete, bekam Kinder. Und dann spürte sie die gnadenlosen Vorurteile der Nachkriegszeit: Eine verheiratete Frau mit mehreren Kindern und einem Ehemann, ebenfalls Lehrer, musste zurückstehen. In erster Linie sollte eine Frau wie sie Familienpflichten nachkommen. Ihre Entlassung wurde verordnet. Für Frau Neidlein bedeutete das fünfjähriges Pausieren, das viele andere Frauen gezwungen hätte, die Hoffnung auf einen geregelten Berufsaufstieg klein zu halten. Sie aber bewarb sich 1966 wieder für den Schuldienst, und zwar als Studienassessorin am damaligen Pestalozzi-Progymnasium in Biberach. Da war sie schon 37. Sie wurde eine beliebte und geachtete Lehrerin mit den Fächern Französisch, Englisch und Deutsch, übernahm den Fachvorsitz in Französisch.
Auch wurde sie stellvertretende Schulleiterin und nahm dem gesundheitlich angegriffenen Chef drei Jahre lang so manche Verwaltungsbürde ab. Und dann? Die Chefstelle musste neu besetzt werden. Inzwischen war die Schule längst Vollanstalt, hatte 74 Lehrkräfte und 1166 Schülerinnen und Schüler. Machen wir ein Gedankenexperiment: Was mag jetzt wohl ihre innere Stimme geraunt haben? Soll ich, soll ich nicht? Die Experten in Schulfragen würden sich vielleicht eher reserviert geben. Vermutlich würden sie das Experiment mit einer Frau an der Spitze für recht kühn halten. Frau Neidlein hatte aber in ihrer inzwischen errungenen Position die Erfahrung gemacht, dass auch der Kurs von erprobten Schulmännern korrekturbedürftig sein kann, und vielleicht flüsterte ihr ihre Selbsteinschätzung leise zu: Du schaffst das und du könntest ja dem Kurs deiner Schule eine neue Richtung geben. Das wolltest du doch schon immer.
Dennoch hielt sie eine Bewerbung für ein Wagnis und schwankte. Nicht so der maßgebliche Entscheider im Oberschulamt. Der hatte ja eine gute stellvertretende Schulleiterin kennengelernt. Herr W. in Tübingen gab ihr den notwendigen Schubser: „Bewerben Sie sich!“
Am 1. Juli 1975 übernahm sie die Leitung. Nebenbei: Sämtliche Gymnasien im Oberschulamtsbereich Tübingen (mit Ausnahme des Klosters Wald) standen unter männlicher Führung.
Für die Schule war die Wahl ein Gewinn. Das ehemalige Mädchen-Progymnasium im Schatten der alten, in Biberach etablierten Lateinschule, es wuchs und wuchs und gewann an Profil. Das Nebeneinander der baulich eng verzahnten Gymnasien prägte ein Wettstreit um die jährlichen Anmeldequoten. Das ständige Polieren an der eigenen Ausstrahlung tat beiden Anstalten gut. Was man in der Stadt und im Umkreis von der Leitung des PG hörte: Dieser Frau (und ihrem damals noch jungen Kollegium) kann man die Kinder anvertrauen. Und Frau Neidlein kümmerte sich sichtlich um die Schüler – sie kannte sie überwiegend mit Namen, auch wenn sie sie nicht unterrichtete, und das auch noch nach Jahren.
Sie sorgte sich auch um das Wohlergehen ihrer Kollegen, sie half diskret, wenn Unterstützung nötig war. Typisch war ihre Besorgnis vor den großen Ferien, wenn sie die Reiseziele (oft weit draußen in der Welt) hörte: Hoffentlich kommen mir alle gesund wieder! Kamen bei Schulbeginn Beschwerden über einen nicht ausgewogenen oder gar zu gedrängten Stundenplan, dann stellte sie sich wieder vor die ihr noch vertraute große alte Stecktafel und fand tatsächlich manchmal bessere Lösungen. Die Schulverwaltung lag in guten Händen. Frau Neidlein war sorgfältig. Sie suchte Reibungen zu vermeiden. Viele persönliche Gespräche mit Eltern über Schulprobleme der Kinder, Beschwerden über Kollegen, Beschwerden von Kollegen. Absichernde Nachfragen beim Oberschulamt, nur keine männlichen Basta-Entscheidungen. Auch Konferenzen bereitete sie in Einzelgesprächen vor, um harte Abstimmungen zu vermeiden und um nicht - befürchten zu müssen, dass ihr die sanfte, aber doch hartnäckige Steuerung entgleiten konnte.
Das alles bedeutete, dass sie sich ein Arbeitspensum über das normale Maß hinaus auferlegte. Sie war oft die erste, die die Schule betrat, und sie gönnte sich kaum Auszeiten. Es war manchmal ein drückendes Joch, man ahnt es im Nachhinein. Aber sie verschaffte sich Respekt, auch bei ihren männlichen Amtskollegen im Umland.
Natürlich machte diese Fixierung auf schulische Bedürfnisse sie zu einem selteneren Gast bei repräsentativen Angelegenheiten in Biberach. Sie auf der Ehrentribüne beim Schützenfest, oder beim Umzug, ein Herz am Halse und ein Blumengebinde schwenkend - das blieb ihr fremd, obwohl die Aufnahme in die Schützendirektion in Biberach als große Ehre gilt. Solche Verpflichtungen delegierte sie einfach. Der Stellvertreter übernahm die Aufgabe gerne. Frau Neidlein war 1975 angeschoben worden. Jetzt schob sie selber, das heißt, sie ermunterte Kolleginnen und Kollegen zu Bewerbungen, wenn sie auf deren Fähigkeiten vertraute. Dabei war sie sichtlich erfolgreich: im Oberschulamtsbereich Tübingen gab es überproportional viele Studiendirektoren, die vom Pestalozzi-Gymnasium kamen. Das hob das Ansehen ihrer Schule.
Für ihre Verdienste, vor allem bei der Förderung von Frauen, die eine Leitungsposition anstrebten, erhielt sie die Staufermedaille des Landes. Die hing (und hängt) in einem kleinen Rahmen fast versteckt an der Wand des sehr privaten Esszimmers. Prunken war nie ihre Sache. Aber stolz war sie schon auf die Auszeichnung, und das mit Recht.