Gänsehaut pur: Herr der Fliegen

Bilder von Atompilzen: Es ist Krieg. Auf dem Boden liegen gestrandete Kinder inmitten von Holzteilen. Im Hintergrund  Dschungel und ein sich verfangen habender Fallschirm … Die Zuschauer merken: gemütlich wird dieser Theaterabend der Großen Theater-AG nicht.

Ralph (hervorragend präsent in verschiedenen Gemütslagen: Luca Wetterau) und Piggy (eindringlich: Annika Hobson), zwei von elf englischen Schüler und Schülerinnen, haben Angst, weil sie nach einem Flugzeugunglück ohne Erwachsene zurechtkommen müssen.  Heranmarschiert „in Reih und Glied“ kommt Jack (souverän spielend: Jannik Riedler) mit seiner Gruppe. In militärischem Schnauzton herrscht er seine Kameraden an. Er beleidigt sie und äfft sie nach. Zwei Möglichkeiten tun sich auf: sich versammeln, demokratisch wählen und Regeln aufstellen oder wie im Paradies grenzenlos jagen und leben. „Das hängt von uns ab!“

Die romantische Vorstellung von Abenteuer weicht der Einsicht gerettet werden zu müssen: Hütten bauen, Feuer machen, Schweine jagen. Noch kann der Zuschauer ab und an bei Anspielungen schmunzeln.

Der Ton wird rauer, die Meinungsverschiedenheiten eskalieren, der Umgang wird zunehmend brutaler.

Die Jugendlichen werden vernünftigen Argumenten mehr und mehr unzugänglich. Es entsteht ein Streit um den Führungsposten („Als Führer kann er alles machen, was er will!“), verschiedene Gruppen bilden sich, grenzen sich voneinander ab. Jacks Gruppe (André Schwarz, Philine Frank, Alina Coskun, Katy Guth und Mustafa Ören) wähnt sich mit ihren Speeren und Waffen im Vorteil.  Dem Zuschauer läuft es kalt über den Rücken, wie intensiv die Jugendlichen einen barbarischen Machtrausch spielen. 

Bald taucht angeblich ein Monster auf. Diese Bedrohung rechtfertigt Unmenschlichkeit: „Das wilde Tier kann alle Gestalten annehmen – die eines Mannes, eines Tieres oder eines Jungen.“ Rachel  (Philine Frank), eine kalte Demagogin, fordert Bestrafung, Gleichschaltung und Gehorsam. Auch Sam und Eric (Sarah Marquardt und Constantin Ruppel), bisher bei Ralph, wechseln zu Jack.

 

Besonders berühren die Szenen, in denen deutlich wird, dass es sich bei allem dennoch um Kinder handelt, die Unglückliches erlebt haben. An seine Grenzen geht dabei Jonathan Harsch als Simon, der sein Leiden in der Kindheit äußerst intensiv herausbrüllt. Schizophren nimmt er dabei die Rolle des Schweineschädels ein, der von Fliegen umschwirrt ist, das Symbol des Bösen und der Gewalt. „Ich bin das wilde Tier, ich bin der Herr der Fliegen!“

Dankbar erlebt der Zuschauer am Schluss den Schiffskapitän mit seinem Begleiter als Retter (kraftvoll: Hubert Stöferle in einer Gastrolle mit Karsten Freitag). Es ist unwichtig, dass er ein 'Deus ex machina' ist. Hauptsache, der Barbarei ist mit den Worten „Es war nur ein Spiel?“ ein Ende gesetzt.

Das Stück (in der Bühnenfassung von Nigel Williams, übersetzt von Astrid Windorf) nach dem Roman von William Golding „Herr der Fliegen“ (1954) ist – beklemmend  in seiner Aktualität – eindrucksvoll inszeniert und trotz der pessimistischen Grundhaltung unbedingt sehenswert. Die Jugendlichen agieren mit unglaublicher Energie. Ruhige, poetische Phasen alternieren mit Kampfszenen und rasantem Tempo. Durch Einfrieren der Körperhaltung werden Parallelhandlungen auf der kleinen Bühne des Komödienhauses möglich. Visuelle und akustische Signale (Sounds, Licht, Plakat: Nick Arnhold und Nicolas Grimm) sind sparsam und stimmig eingesetzt.

Den Regisseuren Veronika Kirsch und Stefan Birkenmaier und den engagierten SchauspielerInnen gelingt anspruchsvolles, zum Nachdenken herausforderndes Theater.     

Der stellvertretende Schulleiter des Pestalozzi-Gymnasiums Christoph Götz dankte am Premierenabend  allen Akteuren – und den für 40 Jahre Theater-AG am PG zuständigen Regisseuren – mit einer Rose. Veronika Kirsch entließ die Zuschauer mit dem Hinweis, dass den Jugendlichen eindringlich bewusst geworden sei, wie wertvoll Demokratie sei.


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